Jammern für Profis

Jammern – Eine Gebrauchsanleitung

Das Leben ist so ungerecht. Wieso werde ich mit Schmerzen bestraft? Warum sieht keiner, dass es mir schlecht geht? Hört das nicht mehr auf?

Alles Gründe weshalb wir jammern könnten. Jammern ist wie Tratschen und Lästern so schön süß und klebrig. Mit Suchtfaktor eben.

Ich glaube, schon unsere Ur-Urahninnen stärkten ihr Gemeinschaftsgefühl am Lagerfeuer, wenn sie über mickrige Jagdbeute lästerten. Über die Jahrtausende beschwerten sich häufiger die Frauen als die Männer.

Gemütliches Festjammern hielt schon unsere Vorfahren in der Komfortzone fest. Gerade Frauen vermieden so die Konfrontation mit Problemen. Und ganz ehrlich, hat sich Jammern auch sehr erfolgreich als Strategie durchgesetzt, unliebsame Aufgaben von anderen übernehmen zu lassen. Weil es uns ja sooo schlecht geht.

Aber halt!

Jammern ist nicht mehr angesagt. Jammern bindet unsere Energie und hält uns am Boden. Taffe Frauen nutzen die Energie besser, um… oder ….

Und überhaupt ist Jammern so von gestern.

Ich lese häufig „Jammerfreie Zone“ oder Schluss mit Jammern. Hin und wieder gibt es Aufrufe, die zu Anti-Jammer-Tagen ermutigen.

Nur: Ich hab da eine andere Meinung.

Ich jammere gern und lustbetont

Nicht so beiläufig, sondern mit beiden Füßen auf dem Boden und – selbst zu meinem Erstaunen – sehr energisch. Kraftvolles Jammern kann einen Entwicklungssprung auslösen.

Entschlossenes Jammern hat eine alchemistische Qualität

Entschlossenes Jammern hat eine alchemistische Qualität. Es kocht etwas hoch, das vorher nur lauwarm und schal war.

Lauwarmes und Schales fängt gerne an zu gären und zu faulen. Wenn du die Zutaten aber ordentlich aufkochen lässt, wird daraus eine kräftige und heilende Suppe.

Gebrauchsanleitung für effektives Jammern:

Achtsamkeit

Bewusstes, aktives Rauslassen von emotionalem Unrat ist was anderes als sich unbedacht in die Opferrolle zu quengeln. Und wie kommst du ins Bewusstsein? Achte auf deinen Körper. Auf deine Haltung. Deine Stimme. – Ohne Bewertung – nur aufmerksam und neugierig.

Timing

Zum gekonnten Jammern gehört Timing:

  • Eine Ankündigung: „mir geht’s heut richtig mies – ich muss jetzt was rauslassen“.
  • Ein Spannungsbogen, in dem ich die Energie halte und vor allem aushalte.
  • Und ganz wichtig ist der Schluss. Profis setzen einen Schlusspunkt. Ein entschlossenes „Sssso! – das hab ich jetzt gebraucht – tut mir leid, wenn ich anstrengend war“.

Mir gelingt dann sogar ein Lächeln, wenn auch gequält und tränenverschleiert. Sehr zur Erleichterung meines Mannes…

Ort

Auch der Ort gehört zur Dramaturgie. Mit Menschen, die mit dem Inhalt meines Leidens nichts zu tun haben, teile ich meine heilsame Suppe nicht. Sie würde ihnen auf den Magen schlagen.

Meinen alchemistischen Wunschpunsch teile ich nur mit verlesenem Publikum. Auch wenn sie nicht wissen, wie ihnen geschieht, sind Anwesende Teil einer Verwandlung, die auch an ihnen nicht spurlos vorübergeht.

„Zufällig“ sich einstellende Zaungäste werden gewarnt:
„Ich bin gerade ziemlich anstrengend und brauch das jetzt. Vielleicht ist es besser, du kommst später wieder oder du stehst das durch!“

Andernfalls nehme ich einen Ortswechsel vor und jammere für mich allein.

Regieanweisungen

Wo kämen wir denn hin, wenn jeder machen würde, was er denkt.

Das endet dann in bekannten Dialogen, die sich etwa so anhören: „Das ist ja gar nichts. Weißt du, was mir neulich passiert ist…“.

Damit Jammern effektiv ist, kündige ich gleich an, dass Ratschläge, Trost und Ablenkung tunlichst zu unterlassen sind. Das würde unseren Heiltrank verwässern. Die ganze Mühe wäre umsonst.

Verbündete

Wer selbst einmal den Kessel geheizt und die Heilsuppe gekocht und ausgeteilt hat, ist eingeweiht. Regieanweisungen sind dann nicht mehr nötig. Verbündete achten auf ihr eigenes Energielevel und auf das Timing und erlauben:

„ok – die nächsten 5 Minuten kannst du dich gerne so richtig auslassen– ich halte das aus“

Verbündete helfen, das Feuer anzufachen und unterstützen im Chor mit:

„Oooooohhhhh du arme“.

Auch besonders theatralisches Seufzen macht sich gut. Unter Gelächter löst sich der ganze Schmerz. Zurück bleibt nur unglaubliche Erleichterung. Befreiendes Seufzen. Und ganz viel Liebe und Verständnis.

Wenn du dich anfangs noch nicht traust, dich zuzumuten, gibt es Abhilfe:
Wenn du genug vom Jammern hast, stelle dich vor einen Spiegel und führe ein Bühnenstück auf: „Weh mir – ich ärmste!“, Seufze, schlag dich an die Brust bis du über dich selbst lachen kannst.

Wunsch

Ähm. Weshalb jammern wir „eigentlich“?

Überlege dir, was du brauchst. Was dir fehlt. Ob du in den Arm genommen werden willst. Sprich es aus. Verbündete sind nicht immer hellsichtig. Sei jetzt nicht feig und schieb deine Laune auf das Wetter.

sprich aus, was du brauchst. Freundinnen sind nicht immer hellsichtig

Energie

Wenn wir uns diese Medizin genauer anschauen, erkennen wir, dass Jammern Energie freisetzt. Wenn du Jammern unterdrückst, nimmst du dir ganz schön was vor. Das ist wie bei einem lasch aufgeblasenen Luftballon. Wenn du ihn zusammendrückst, weicht die Luft aus. Du kannst Energie nicht auflösen. Sie sucht sich einen anderen Ort. Deshalb ist es sinnvoll, dass du dich jetzt und hier um dein Problem kümmerst.

Energie will genutzt werden. Sie ist ein Geschenk. Also jammere nicht auf Sparflamme

Die Energie will genutzt werden. Sie ist ein Geschenk. Also jammere nicht auf Sparflamme, das ist nämlich

a) Kräfte zehrend
b) vergraulst du dir deine Freunde und du
c) verschwendest Energie, die du sinnvoller verwenden könntest.

Auf körperlicher Ebene bringt dir Seufzen Erleichterung und Entspannung und leert die Blutgefäße in Leber und Milz und neues, frisches Blut kann nachfließen. Lustbetontes Stöhnen hingegen hat diesen Effekt auf deine Nieren. Die Betonung liegt auf „lustvoll“, denn nur so zu Stöhnen verdichtet nur deine Energie.

Auf den Punkt gebracht:

Wir haben in diesem Zusammenhang viel verlernt, können uns aber von anderen Kulturen etwas abschauen. Im Bereich der Trauer, der ebenso wie Jammern Energie zugrunde liegt, kennst du vielleicht die Klageweiber. Schade, dass wir keine Trauerkultur mehr haben mit Klagegesängen und Tänzen. Aber das kannst du für dich ändern. Ich habe am eigenen Leib erfahren, wie wohltuend und nährend es ist, starken Gefühlen Raum zu geben.

In diesem Sinne – nutze deine Kraft – die Welt braucht starke Frauen!

liebe und draufgängerische Grüße

Birgit

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15 Kommentare
  1. Beate Reich Reich sagte:

    Wie immer genial!!! Birgit…..von die was zu lesen ist einfach Balsam…durch und durch! Und soooo erfrischend…..spritzig😃😃danke!
    Lieber Gruss
    Beate/Bregenz

    Antworten
  2. Pete sagte:

    Ja genau, was lange gärt wird endlich Sauer, das ist nie gut/förderlich! Die Rumpelkammer des Unterbewusstseins ist eh genug gefüllt, wenn das Setting stimmt die Vorwarnungen abgeschossen sind, und vielleicht noch unter Profi Anleitung, dann hat es ganz sicher eine Reinigende befreiende Wirkung. Wer kennt das nicht mal richtig Dampf raus gelassen zu haben (bitte nur bei Personen deines Vertrauens!!!) Oft wird der jammer Grund dann ganz anders betrachtet oder verliert sogar gänzlich seinen Stachel .

    Antworten
    • Birgit sagte:

      Genau so ist es. Gären und sauer sind interessante Bilder in diesem Zusammenhang. Warum wollen wir uns damit belasten? Also kunstvoll raus damit.
      Liebe Grüße
      Birgit

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  3. Maria sagte:

    Danke für den wundervollen Beitrag.
    Rausjammern, was da drinnengerade seinen Platz hat und raus will,
    was gehört und wahrgenommen werden will,
    um dann,
    wenn wieder Platz ist,
    das Neue KRAFT-voll nachfließen kann.

    Wunderbarer Beitrag – Danke

    Antworten
    • Birgit sagte:

      Liebe Maria,
      Mittlerweile habe ich noch so viel lernen dürfen. z.B. dass mit den Füßen stampfen unglaublich befreiend wirkt. „Eingefrorene“ Gefühle, die teilweise auch in den Füßen feststecken, können wir so loslassen. Mit dem Bild einer „ungezogenen Göre“ vor Augen, oder besser einer Pipi Langstrumpf, machen wir unserem Ärger Luft und lassen ihn lustvoll los. Jammern, Stampfen & Co. sind also reine Alchemie.
      Alte Wut, Frust, Ärger… werden zu prickelnder Energie. Yiehaaah!
      Alles Liebe
      Birgit

      Antworten
  4. Stella & Petra sagte:

    Liebe Birgit, was für ein schönes Plädoyer für’s kraftvolle Jammern! Danke für den Hinweis auf unserem Blog!
    Eine Ausnahme ist mir noch eingefallen zu der sehr sinnvollen Regel, „Menschen, die mit dem Inhalt meines Leidens nichts zu tun haben“ nicht zum Publikum für kathartisches Jammern zu machen: Nämlich Coaches. Zumindest bei mir dürfen Kunden – angekündigt und mit Zeitrahmen und mit Energie – sehr gerne genau so jammern, wie Du es beschrieben hast. Und dann schauen wir uns an was sie sich eigentlich wünschen, und wie wir diese Energie genau dafür nützen können 🙂

    Antworten
    • Birgit sagte:

      Liebe Stella, liebe Petra,
      das ist ein wichtiger Punkt. Gut, dass du ihn hier ansprichst. Ein Coach kann beim Jammern Hilfe stellen. Alleine schon, durch aktives Zuhören und wiederholen, was verstanden wurde, hilft ungemein. Es geht ums „gesehen werden“. Dafür schaffen wir meist zu wenig Raum. Das allein ist schon Grund zum Jammern 😉
      Mit eurem Blog http://www.solebenwieichwill.com greift ihr wichtige Themen auf. Ich schau jetzt öfter mal bei euch vorbei.
      Alles Liebe
      Birgit

      Antworten
  5. Angela sagte:

    ja das Jammern ist so einfach, wenn man sich seinen negativen Emotionen hingibt. Wenn man nicht erkennt warum man in dieser Situation ist, schadet man sich eigentlich nur selbst, da man die ganze Welt nur negativ sieht. Solche Situationen sind aber auch gut zum wachsen und sich selbst neu zu definieren.

    Antworten
    • Birgit sagte:

      Hallo Angela,
      da rutschen wir alle immer wieder rein. Wichtig ist aber, dass wir uns nicht verurteilen deshalb sondern uns wieder neu ausrichten.
      Liebe Grüße nach Frankfurt
      Birgit

      Antworten
  6. Barbara J. Schoenfeld sagte:

    Ein wunderbarer Artikel, liebe Birgit,

    Dankeschön, dass du mich darauf aufmerksam gemacht hast. Ich habe ihn auch kurzerhand in meinem Artikel über das Jammern verlinkt. Ja, wenn wir alle so konstruktiv mit dem Jammern umgehen würden, dann würde es auch wirklich was nützen. Dann wird etwas verändert. Aber leider ist es ja nun mal so, dass die wenigsten Menschen das so machen. Für die meisten Menschen ist es ein willkommener Grund einfach in ihrer „Suppe“ sitzen zu bleiben und sich selbst bedauern und hoffen, dass mal endlich jemand sie bedauert. In diesem Sinne hoffe ich auf viele Profijammerer.

    Herzliche Grüße
    Barbara

    Antworten
    • Birgit sagte:

      Liebe Barbara,
      schön, mit dir in Kontakt zu kommen. Jammern und Scham war gestern bei Aperol-Spritz das Gesprächsthema des Abends. War sehr erfrischend, auch mit Männern darüber zu diskutieren.
      Liebe Grüße und vielen Dank für’s Verlinken
      Birgit

      Antworten
  7. Christine Oelkers sagte:

    Eine meiner befreiendsten Erfahrungen auf einem früheren Seminar.
    Erst hatte ich totale Widerstände stark bleiben zu wollen und konnte erst über die bewußt
    eingegangene Körperhaltung auf allen Vieren kriechend loslassen.
    Über einfach rauslassendes Tönen ging es dann erst zum richtig herrlichen JAMMER JAUL,
    was dann in der befreiten Energie total lustvoll war und im Lachen über alles und mich selber endete….also aus Jammern entsteht kraftvolle, neue, frohe Energie !
    Nicht lange zögern, sondern gleich ran….mit allen Kraftausdrücken, die man sich sonst nicht erlaubt.
    Viel Spaß dabei !

    Antworten
    • Birgit sagte:

      Liebe Christine,
      wenn wir Gefühle zur Sache machen, hält uns das fest. Bringt uns nicht weiter. Manchmal ist des deshalb sehr befreiend, zu drastischeren Methoden zu greifen.
      Das wirkt sich dann auch auf anderen Gebieten aus.
      Liebe Grüße
      Birgit

      Antworten

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