Bild und Skulptur: Martina Gempp
Lipödem – Von Reiterhosen, Scham und Schuld
Jutta ist unsichtbar
Und doch schauen alle auf ihren Körper. Manche zeigen mit dem Finger auf ihre Beine. Denn sie sind unförmig. Wie Säulen – sagen manche. Unglaublich – andere. Jutta traut sich kaum mehr auf die Straße.
Wenn Jutta zum Arzt ging, war sie immer wie versteinert. „Nehmen Sie ab“ bekam sie zu hören. Und „Treiben Sie Sport – aber fangen Sie vorsichtig an, denn bei Ihrem Gewicht können Sie sich leicht übernehmen…“. Was ihr die Ärzte nie glauben wollten: Jutta hat unzählige Diäten ausprobiert. Und sie treibt Sport. Verbissen – dreimal die Woche – seit Jahren. Nur es nutzt nichts.
Jutta schämt sich, ihre Lebensqualität leidet. An Urlaub am Strand will sie gar nicht denken. Und ihre große Leidenschaft, das Tanzen hat sie schon vor Jahren an den Nagel gehängt. Mitleidige Blicke hat sie satt. Das Schlimmste ist: Sie gibt sich selbst die Schuld daran, dass ihre Beine und ihre Arme so unförmig sind.
Die Symptome begannen schleichend. Das sind die Gene, hat sie sich gesagt, als sie „auseinander“ ging. Dann kamen die blauen Flecken. Ständig. Sie entstanden aus dem Nichts. Wenn Jutta ihre Beine abtastete, tat ihr das weh. Es gipfelte darin, dass ihr das Duschen unerträglich wurde, weil auch dies Schmerzen verursachte. Und ein Kind auf den Schoß zu nehmen? Undenkbar. Viel zu schmerzhaft.
Dann begann die Zeit, in der sie sich zurück zog. Weniger aß, verbissen trainierte, Schmerzmittel einnahm. Wenn sie Klamotten kaufte, passte ihr am Oberkörper Größe 38. Bei den Hosen – an Röcke war gar nicht zu denken – wählte sie drei bis vier Kleidergrößen mehr. Und Winterstiefel gab es nur in Sonderanfertigung.
Ich verrate dir gleich, warum Jutta jetzt wieder Röcke trägt. Vorher will ich dich fragen: Kennst du das auch, dass du dir selbst die Schuld gibst, wenn du mit deinem Körper nicht zufrieden bist?
Starke Frauen verstecken sich nicht mehr
Die Erlösung kam im Supermarkt
Es war kurz vor Ladenschluss. Jutta verstaute gerade ihre Einkäufe, als eine Frau sie ansprach: „Ich weiß, was Sie durchmachen. Ich sah bis vor einem Jahr genauso aus. Ich dachte immer, ich wäre…“ und da schluckte sie… „fett!“ Es kostete sie spürbar Überwindung: „Ich mochte mich nicht leiden…“, fuhr sie fort und sah Jutta in die Augen: „Das ist eine Krankheit und die heißt Lipödem. Und es ist Glückssache, wenn sie diagnostiziert wird„.
Die nächsten Tage recherchierte Jutta Stunden im Netz. Ihre Gefühle spielten Achterbahn. Einmal musste sie Lachen vor Freude, was letztlich in Schluchzen mündete. Und dazwischen lag blanke Wut. Auf sich, auf die Ärzte, auf all die Menschen, die sie nur angafften und doch nie sie selbst sahen.
Lipödem heißt dieses Ding also
Und Jutta ist nur eine von 5 Millionen mehr oder weniger betroffenen Frauen in Deutschland.
Die Durchblutung der kleinen und kleinsten Gefäße in den Beinen und Armen ist gestört. Zu viel Eiweiße sickern ins Gewebe. Das Bindegewebe hat die Fähigkeit, wie ein Schwamm, extrem viel Wasser zu speichern. Das führt zu ausgeprägten Schwellungen. Das Lymphsystem will Abhilfe schaffen, kommt aber nicht mehr hinterher. Chronische Entzündungsprozesse sind die Folge und das Fettgewebe verhärtet. Nicht genug: Venenschwäche und Krampfadern treten häufig gleichzeitig auf. Ebenso Bluthochdruck und Arthrose. Das ist nachvollziehbar.
Woran erkennt frau Lipödem?
Betroffen sind Unter- und Oberschenkel, Po und Arme. Die Füße und Knöchel sind nicht betroffen. Ebenso wenig wie der Rumpf, Hals und Gesicht. Dazu kommen Druckempfindlichkeit und blaue Flecken – die ohne Anlass entstehen. Lipödem ist keine Cellulite und wird häufig als Übergewicht abgetan.
Bis vor kurzem haben auch viele Ärzte die Krankheit nicht erkannt.
Wenn du meinst, betroffen zu sein, lasse dich zu einer Phlebologin (Venenspezialistin) überweisen. Sie wird gleichzeitig deine Venen und Krampfadern untersuchen.
Tipps bei Lipödem
Wenn die Schwellungen nicht sehr ausgeprägt sind, helfen konservative Behandlungsmethoden:
- Lymphdrainage
- Tragen von Kompressionstrümpfen – wobei das passive Tragen alleine nicht genügt. Du musst dich darin auch bewegen, damit gestaute Lymphe abtransportiert werden kann.
- In den letzten Jahren sind noch einige weitere Methoden hinzugekommen. Hier ein sehr wertvolles Video dazu.
- und dazu das Buch von Dr. Thomas Weiss, der in seinem zweiten Buch zu diesem Thema umsetzbare Tipps gibt. („Lipödem: Rechtzeitig erkennen und richtig behandeln. Wirksame Hilfe ohne OP“)
Was du sonst abklären solltest
- Ist dein Darm gesund? Lies dazu auch den Artikel im Blog über Frauengesundheit
- Frage deine Ärztin, ob deine Leber- und Nierenwerte in Ordnung sind.
- Lasse ein Blutbild machen. Frage auch, ob du genügend mit Vitamin D, Selen und Magnesium versorgt bist.
- Wenn du Narben hast, lasse sie entstören. Narben stören den Lymphfluss enorm. Lies dazu auch meinen Artikel über Narben
Tipps aus dem Ayurveda
Du hast bestimmt unzählige Diäten hinter dir. Das bedeutet, deine Verdauung ist im „Eimer“. Dein Agni, wie man im Ayurveda das Verdauungsfeuer nennt, läuft auf Sparflamme. Jedes Salatblatt, Vollkornbrot, Obst, all das, was eigentlich gesund ist, hindert dein Feuer daran, den alchemistischen Prozess der Verdauung und Verwertung deiner Nahrung in Gang zu setzen.
Ist das Verdauungsfeuer geschwächt, führt dies zu einer Störung der Verdauung und damit zu der Bildung von Schlackenstoffen, der Ursache aller Erkrankungen – laut Ayurveda.
Das erklärt auch, warum ungeeignete Diäten das Lipödem sogar verschlimmern. Und für die Lebensfreude sind sie auch nicht gerade zuträglich.
Was keinesfalls bedeutet, wahllos alles essen zu dürfen.
Lass dich beraten. Frage dich: Trinkst du zum Essen? Womöglich kalte Getränke? Isst du genügend Bitterstoffe? Z.B. frische Kräuter und bittere Salate? Sie helfen der Leber beim Entgiftungsprozess und beim Fettstoffwechsel. Kaust du gründlich? Isst du spät abends? Das belastet deinen Organismus. Gut sind auch Gewürze. Sie unterstützen die Bildung von Verdauungssäften. Wichtig ist auch, dass du deinen Körper entsäuerst. Dazu gehört u.a. der Verzicht auf Cola und kohlensäurehaltige Getränke.
Heißes Wasser bringt deine Verdauung wieder auf Trab. Koche deshalb einen Liter Wasser mehrere Minuten lang. Gib etwas frischen Ingwer dazu. Fülle das Wasser in eine Thermoskanne und trinke den Tag über immer wieder kleine Schlucke davon.
Tipps aus dem Qi Gong
Wenn dein Bindegewebe Schlackenstoffe und Wasser speichert, ist der Chi-Fluss gestaut. So nennen die Taoisten die Lebensenergie. Durch die Wasseransammlung werden die Gelenke in Mitleidenschaft gezogen. Qi Gong hilft dir, durch die sanften, fließenden Bewegungen wieder mehr Lebensqualität zu bekommen.
Ins Fließen kommen.
Du bist nicht Schuld. Und deine Ärzte wussten es auch nicht besser. Schuldzuweisungen verhindern den Fluss.
Halte die Schönheit deiner Seele nicht zurück.
Frage dich: „Wo in deinem Leben herrscht Stagnation?“ Wo „dümpelst“ du statt zu fließen? Neulich war ich auf einem sagenhaften Seminar, in dem es genau um diese Themen ging. Dabei war sehr spannend, einmal körperlich auszudrücken, wie sich Stagnation anfühlt. Mach das doch gleich mal. Drücke das übertrieben aus. Halte diese Spannung und lasse nach einer Minute los und spüre nach.
Ausdrücken kannst du dich auch durch Kunst. vielleicht inspiriert dich das Bild (s.o.) und die Skulptur von Martina Gempp. Oder wie Corinna Hansen-Krewer, Fotografin von Soul Feelings Fotografie. Sie hat ein aufrüttelndes Fotoprojekt daraus gemacht.
Innen und Außen bedingen einander wie Yin und Yang. Frage dich: „Wie ist es, ein Fluss zu sein?“ Welche inneren Bilder steigen in dir auf? Nimm sie tief in dir auf.
Auch sanfte Berührungen helfen dir, wieder in Kontakt zu dir zu kommen. Doch häufig streicheln wir nur noch unsere Smartphones. Umarmungen sind häufig Fehlanzeige. Effekt: Wir sind „unterkuschelt“.
Gib dir und deiner Umgebung, was du selbst am nötigsten brauchst. Aufmerksamkeit, liebevolle Zuwendung. Damit ziehst du genau das auch an. Probier es aus. Trau dich und komme aus deinem Kokon. Fange im engsten Kreis an.
Lipödem „wegmachen“ lassen?
Mittlerweile gibt es erfahrene Ärzte, die das betroffene Gewebe und die überschüssige Flüssigkeit absaugen. Der Effekt ist umwerfend. Dennoch macht eine Operation vielen Frauen angst. Die Kosten für eine Liposuktion, wie diese Methode heißt, werden von Krankenkassen nicht ohne weiteres übernommen. Lies dazu hier.
Madlen Kaniuth ist diesen Weg gegangen. Madlen ist Schauspielerin und litt über 20 Jahre an Lipödem. Sie hat sich operieren lassen und ein lesenswertes Buch über das Thema und ihren persönlichen Weg zur Gesundheit geschrieben. Mittlerweile ist sie sogar Botschafterin der Lipödem Hilfe Deutschland e.V.
Sie erzählt sehr anschaulich, dass ihr großer Traum als Mädchen war, Tänzerin zu werden und dieser immer an ihren kräftigen Beinen scheiterte…
Auf den Punkt gebracht
Wie auch immer. Sieh hinter allem nicht länger eine Last sondern vielmehr eine Herausforderung. Lass dich beraten, hol dir Hilfe – du bist nicht allein.
Alles Liebe
Birgit
Bist du selbst betroffen? Oder kennst du eine Frau, die an Lipödem leidet? Welche Erfahrungen hast du gemacht?
18 Kommentare zu “Lipödem”